Routinen der Krise ? Krise der Routinen

Wir leben in Krisenzeiten. Krisendiagnosen sind allgegenwärtig. Die Liste konstatierter Krisenszenarien reicht von der Finanz- und Schuldenkrise über die Staats- und Legitimationskrise bis hin zur Krise des Politischen, der Öffentlichkeit und des Bildungsystems. Im europäischen Raum erfahren Krisendeutungen nochmals eine Zuspitzung: Unter dem Label der Euro(pa)krise werden der Verlust des europäischen Zusammenhalts, sich im Gefolge einer weltweiten Finanzkrise entwickelnde Renationalisierungen, soziale Verwerfungen sowie irreversible Asymmetrien befürchtet.

Gerade die Soziologie weiß jedoch aufgrund ihres Selbstverständnisses als Krisenwissenschaft um die Dauerpräsenz des Krisentopos. Für die soziologische Analyse ist deshalb ? ohne die genannten Krisenkonstellationen zu leugnen ? auf die longue durée sozio-historischer Prozesse zu verweisen: Eine entsprechende Langzeitperspektive ermöglicht es, aktuell als einzigartig Begriffenes vergleichend einzuordnen. Da Krisen potentiell die Annahme erschüttern, dass bestehende Strukturen alternativlos sind, erschließen fortgesetzte Krisendeutungen einerseits Kritikoptionen. Andererseits können sie jedoch zu einer Apathie gegenüber allzu routinisiert als krisenhaft gedeuteten Gegenwartsverhältnissen führen. Der öffentliche Krisendiskurs und immer wieder aufflammende Protestszenarien stehen dann in einem eigentümlichen Kontrast zur verbreiteten Haltung eines schlichten »Weiter so«. Die Ungewissheiten einer offenen Zukunft gehen mit der Gewissheit der Krise einher. Die Inflationierung der Krise verweist dann auf die Auflösung ihres Gegenteils: der routinierten gesellschaftlichen Normalität. Der subjektive Eindruck außeralltäglicher Krisen bricht sich an der objektiven Alltäglichkeit ihrer öffentlichen Dauerpräsenz. Durch die Krise der Routinen werden die Routinen der Krise zum Gegenstand der Soziologie.

Angesichts der Geschichte der Soziologie muss es überraschen, dass der inflationären Verwendung des Krisenbegriffs keine entsprechende soziologische Reflexion gegenüber steht. Als Chiffren für den Krisenbegriff fungieren die Begriffe der gesellschaftlichen Paradoxien, der sozialen Widersprüche, der Ambivalenzen, der gesellschaftlichen Dialektik, des Risikos oder auch der Nebenfolgenproblematik. Die ebenfalls verwendete Katastrophenmetapher insinuiert zudem Auflösung oder Untergang, während Krisen ? als Transformationsprozesse ? stets auch in ihrer Produktivität zu begreifen sind.

Das Titelthema des Kongresses »Routinen der Krise ? Krise der Routinen« knüpft unmittelbar an das historische Selbstverständnis der Disziplin an und nimmt die aktuell wieder aufkommenden Debatten um dieses Selbstverständnis auf: So sind die Differenzen und Berührungspunkte zu den ökonomischen Wissenschaften, zur Geschichtswissenschaft und zur Ethnologie in den letzten Jahrzehnten vergleichsweise unscharf geblieben, die Erklärungsansprüche der lebenswissenschaftlich ausgerichteten Natur- bzw. Neurowissenschaften fordern zur Auseinandersetzung mit dem disziplinären Selbstverständnis heraus. Und nicht zuletzt fokussiert das Kongressthema die aktuellen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erosionsprozesse sowie den Umstand ihrer alltäglichen, außerwissenschaftlichen wie auch wissenschaftlichen Deutung und Bearbeitung als Krise.

Der im Oktober 2014 in Trier stattfindende 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie fragt sowohl nach dem soziologischen Potenzial zur Krisenanalyse als auch nach der wissenschaftlichen Verantwortung in Krisenzeiten. Das Ausloten des facettenreichen Krisenbegriffs wie des Spannungsverhältnisses von Krisen und Routinen eröffnet der Soziologie die Chance, das für die Disziplin konstitutive Spannungsverhältnis zwischen Diagnose und Prognose neu zu durchmessen.

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